Bernd Heynemann, Sie haben über 300 Profispiele geleitet und haben den Wandel im Profifußball hautnah miterlebt. Welches sind die grundlegendsten Veränderungen in den ganzen Jahren gewesen? Die grundlegendsten Veränderungen in den letzten 20 Jahren sehe ich in der Technisierung des Fußballs. Das beginnt bei der technisch-medizinischen „Überwachung“ der Spieler mit Fitness- und Ernährungstrackern und geht hin bis zum System des Video-Assistenten. Wir nähern uns immer mehr der Spielkonsole als dem eigentlichen Spiel! Kreativität ist der „flachen Hierarchie“ geopfert und bringt keine Typen mehr hervor. Dies beginnt bereits im C-Jugendbereich und setzt sich kontinuierlich, planmäßig und stringent fort.
Die besten Mannschaften der Welt tanzten nach Ihrer Pfeife. Braucht man nicht ein riesiges Selbstvertrauen, wenn man Spieler wie Roberto Baggio, David Beckham, Franco Baresi oder Zinedine Zidane zurechtweisen muss?
Selbstbewusstsein ist unbedingt eine persönliche Voraussetzung. Es ist aber ein schmaler Grat zwischen Selbstbewusstsein und Selbstüberschätzung. Das muss man als Schiedsrichter unbedingt unterscheiden können. Es geht dabei nicht um die Frage der Macht, also wer ich im Spiel bin, sondern um den psychologischen Aspekt der Menschenführung mit den Spielern. Das heißt Verständnis, Respekt, aber auch Stringenz bei der Durchsetzung der Regeln. Dabei spielen Namen keine Rolle!
Gab es schon Vorwürfe aus Spanien? Immer wenn Sie spanische Mannschaften in der Champions League pfiffen haben diese auch verloren. Darunter je zweimal der FC Barcelona und Real Madrid? Sind einem Schiedsrichter solche (unnötigen) Statistiken bewusst?
Diese Statistik kannte ich nicht. Als Top-Referee war ich ja sehr viel mit den Top-Teams aus Spanien und Italien im Einsatz. Was dann dabei für ein Ergebnis entstand, war für mich uninteressant. Es gab auch nie Kritik an meinen Leistungen, bzw. an der „Auslegung“ dieser Ergebnisse.
Wenn Sie heute die drei von Ihnen geleiteten interessantesten Spiele küren müssten, welche würden es aufs Treppchen schaffen?
Auf jeden Fall die beiden Spiele bei der WM 98 in Frankreich. Wer ist schon als Schiedsrichter oder Spieler bei einer WM?! Und auf jeden Fall eines meiner schwersten Spiele in der Bundesliga: Dortmund – Bayern 1999 mit vielen „Aktionen“ von Olli Kahn.
Welches war das schönste Stadion, in dem Sie ein Spiel pfeifen durften?
Das Camp Nou in Barcelona.
Früher hieß es zum Beispiel auf dem Betzenberg in Kaiserslautern, dass die Schiedsrichter sich von dem Publikum beeinflussen lassen würden. Stimmt das oder prallt die Atmosphäre am Schiedsrichter ab? Der FCK gewann übrigens nur 4 von 10 Heimspielen unter Ihrer Leitung.
Auch eine interessante Statistik, die ich nicht kannte! Für mich war es immer motivierend, wenn ein Stadion voll war, egal ob 20.000 oder 80.000 Zuschauer reinpassten. Das motiviert auch die Spieler, denn niemand will vor halbleerem Haus spielen. Deshalb war für mich die Kulisse in Kaiserslautern auch nicht anders, als ein volles Haus in Hamburg oder Freiburg.
Auf dem Betzenberg war auch Ihr letztes Bundesligaspiel 2001. Was halten Sie von der Altersgrenze für Schiedsrichter mit 47 Jahren?
Eine Altersgrenze ist eine starre Festlegung und überhaupt nicht passend! Es zählen die Leistung und die anderen Kriterien wie Kondition, Medizincheck, Persönlichkeit, Akzeptanz.
Hatten Sie jemals Angst um Ihre Gesundheit während eines Spiels?
Nein, nie! Ich war in keiner Situation, in der ich mich von Spielern, Offiziellen oder Fans bedroht fühlte.
Früher waren persönliche Gesänge gegen Schiedsrichter wie das eher harmlose „Schiri, wir wissen wo dein Auto steht“ und das schon krasse „Hängt sie auf die schwarze Sau“ an der Tagesordnung. Haben Sie solche Gesänge beeinflusst oder sogar belastet?
Das hat mich nicht tangiert. Je mehr Zuschauer, je weniger eindeutig hört man etwas. Deshalb ist es in den unteren Klassen bei 200 Zuschauer für den Schiri schwieriger darüber wegzuhören, als bei 20.000 Zuschauern.
Viele Fußballfans sind Fußballromantiker und wünschen sich die „guten alten Zeiten“ zurück. Waren die ersten 30-35 Jahre der Bundesliga wirklich so viel besser oder glorifiziert man die alten Zeiten einfach?
Natürlich ist es menschlich normal, dass von Vergangenem nur das Positive in Erinnerung bleibt. Trotzdem gab es einige Dinge, die auch noch heute ihre Berechtigung hätten, z.B. der Kurzdialog mit den Spielern, den nur einige der heutigen Referees „beherrschen“, denn dies nimmt viel Aggression. Viel wird heute mit der Floskel „es geht um viel Geld“ argumentiert. Das ist aber nicht die volle Wahrheit: In erster Linie geht es um Menschen, Spieler, Persönlichkeiten. Ihr Platz verschiebt sich immer mehr vom Spielfeld in den Boulevard.
Gibt es Spiele oder Szenen, die Ihnen immer noch besonders gut im Gedächtnis sind?
Ja, auf jeden Fall eine: Im Spiel Dortmund gegen Bayern 1999 gab es von Olli Kahn die „Kung Fu“-Einlage. Man sieht ihn mit dem Ball in der Hand und dem „Tritt“ gegen Chapuisat. Warum von mir kein Rot?! Nur ein TV- Sender zeigte diese Szene aus der Hintertor-Perspektive: Angriff Dortmund, Abseitspfiff und Olli Kahn schnappt sich den Ball und ist wieder über seine Abwehr sauer und bringt diesen „Tritt“. Aber zwei Meter neben Chappi! Von der Seitenkamera sieht es so aus, dass er kurz vor den Kopf des Spielers tritt. Für mich nun die Frage: Gibt es für einen Lufttritt in der Spielunterbrechung Gelb oder Rot? Nein, da Olli nach einem kleinen Konflikt mit Andy Möller schon Gelb hatte, hätte ich ihn wegen eines Lufttrittes runterwerfen müssen. Das hätte wieder Diskussionen gegeben.
Sie waren der Schiedsrichter beim Abstiegsendspiel 1996 zwischen Leverkusen und Kaiserslautern. Der FCK spielte kurz vor Schluss den Ball wegen einem verletzten Spieler ins Aus. Leverkusen spielte weiter, woraus der Ausgleich resultierte. Der FCK stieg ab. Ärgert man sich als Schiedsrichter darüber, wenn Spieler auf „Fair Play“ verzichten und man nicht einschreiten darf?
Auch diese Szene ist mir noch gut in Erinnerung. Die Frage war ja für mich, das „Nicht-Fairplay“ zu annullieren. Aber da gab es keine Möglichkeit. Natürlich fühlt man eine „Ungerechtigkeit“, aber ich konnte nichts machen. Das sind Momente, in denen auch mein Fußballherz schmerzt!
Es ist vollkommen menschlich, dass man als fußballinteressierter Mensch Sympathien, aber auch gewisse Abneigungen für, bzw. gegen Vereine entwickelt. Kann man dies auf dem Platz ausblenden oder würden sie heute sagen, dass Sie auch mal eine Sympathie-Entscheidung getroffen haben? Vielleicht sogar unterbewusst?
Als Schiedsrichter hast Du ein Spiel zweier Teams zu leiten. Ich habe mich auch nie speziell auf die eine oder andere Mannschaft vorbereitet. Wer Sympathien hat oder Fan eines Vereines ist, wird in seinen Spielleitungen früher oder später scheitern. Mir ist auch keine Sympathie-Entscheidung bewusst.
Gab es Trainer mit denen Sie sympathisiert haben?
Die „Beziehung“ zu den Trainern stellte sich im Wesentlichen mit der Begrüßung im Tunnel dar, sonst war keine Kommunikation gegeben.
Natürlich wollen wir auch den Gegensatz kennen lernen. Wer ging überhaupt nicht? Es gibt ein bekanntes Foto von Ihnen Nase an Nase mit Matthias Sammer. War er ein solches Beispiel?
Matthias Sammer kannte ich ja schon als Spieler und das Foto war vom Spiel Stuttgart gegen Dortmund. Wenn man jemanden kennt, dann muss man auch mal eine ungewöhnliche Ansprache wählen, um alles wieder ins Lot zu bringen. Ein ähnliches Foto gibt es auch mit Winnie Schäfer vom Spiel Karlsruhe – Bayern.
Vergleichen Sie doch bitte mal die Fußballer von vor 30 Jahren mit den heutigen Spielern?
Vor 30 Jahren war 1990. Der Umbruch in der Bundesliga mit den Spielern aus dem Osten. Das war noch eine Mischung aus Aufbruch, Neuland, Findung, aber auch mit großem Respekt vor der Institution Bundesliga. Auch für mich. Der Anteil der Ausländer war vielleicht bei 10 Prozent und damit auch in der Verständigung einfacher. Es gab mehr Typen auf dem Platz und ich glaube der Teamgeist war größer. Die Medien waren nicht so allgegenwärtig wie heute.
Sie wurden 1998 Schiedsrichter des Jahres. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Das ist schon eine Anerkennung meiner gesamten Leistung, denn 1998 wurde ich ja auch von der FIFA für die WM nominiert.
Sie haben so viele große Persönlichkeiten des Fußballs kennengelernt. Gibt es Geschichten, an die Sie sich besonders gerne zurückerinnern?
Es gab eine Situation vor einem Champions League-Spiel in Barcelona: Ich habe mich damals auf dem Feld erwärmt, was heute ja vorgeschrieben ist. Da kam aus der Spielertraube Hristo Stoitschkow heraus und begrüßte mich. Wir haben uns in vielen Spielen, auch der bulgarischen Teams getroffen und er war der Superstar schlechthin. Und der kommt zu mir und wünscht mir ein gutes Spiel. Respekt!
Was halten sie von der kommerziellen Entwicklung im Profifußball?
Es wird irgendwann zum Crash kommen, wenn die Ablösen, Sponsoringeinsätze, Turnieraufblähungen, TV-Gelder und Gehälter weiter steigen. Der Sinn des Spitzenfußballs ist nur noch Profit und nicht mehr das Spiel. Damit hat sich sogar die „nationale Identität“ verschoben, denn das Nationalteam ist nicht mehr das Nonplusultra, sondern der „Spitzenklub“. Da helfen auch keine Gehaltsobergrenzen oder ähnliches.
Glauben Sie, dass durch das Ausschlachten des Fußballs eine Übersättigung des Publikums stattfindet?
Ich glaube nicht, dass es eine Übersättigung gibt. Ich denke eher an eine Elitisierung durch eine Weltliga. Irgendwann ist der „Zirkus“ vorbei und die Fans wollen lieber den ursprünglichen Fußball vor der Haustür sehen. Fußball ist immer noch das, was man 90 Minuten sieht und nicht das, was man zusammenschneidet.
Marcel Reif sagte mir in einem Interview, dass er fest davon ausgeht, dass irgendwann die Superliga für die ganz großen Vereine kommt. Könnte dies auch eine Chance für den nationalen Vereinsfußball sein? Wenn Bayern zum 20. Mal in Folge Meister wird interessiert es vielleicht niemanden mehr.
Nein, das sehe ich anders. Wenn die Woche nur Sonntage hat, ist es langweilig. Der Mix zwischen dem „Alltag Bundesliga“ und dem „Sonntag Champions League“ macht den Reiz. Daran sollten alle denken, die wirklich das Fußballspiel im Mittelpunkt sehen.