Meine schönste Auswärtsfahrt von Andreas Linke
Leverkusen im Jahre 1993. Normalerweise reiste man ja mit wenig Hoffnung gen Haberland, und doch ereignete sich Erstaunliches.
Wohl kaum jemandem ist es erspart geblieben, in der Schule einen Aufsatz anzufertigen, der mit “Mein schönstes Ferienerlebnis” übertitelt werden sollte. Während die Einen eine Millisekunde später bereits ihren Stift im Aufsatzheft kreisen lasse, kauen die Anderen noch verlegen darauf herum und fragen sich, ob sie wirklich eine ganze Seite damit füllen können, wie sie Steine in einen See oder Stöckchen für den Hund geworfen haben. Denn nicht immer sind die schönsten Erlebnisse auch die, die es sich lohnt, zu Papier zu bringen. Ähnlich verhält es sich, sollte ich von meiner schönsten Auswärtsfahrt berichten. Schöne Spiele – begrenzt man dieses Wort auf die weißen Linien am Rande des Rasens – sah ich viele, wovon einige sicher auch emotionale Höhepunkte zu bieten hatten. Ginge es gar um das Ambiente und das Erlebnis der Reise, würde ich wohl eher meinen schönsten Auswärtsflug benennen, zum Beispiel den nach Santander. Das ist natürlich eine meinem (immer noch frischen) Alter geschuldete subjektive Wahrnehmung, denn in den Neunzigern waren mir Sonderzugfahrten mit reichlich Dosenbier viel lieber, da hättest du mit dem Flieger gar nicht ankommen brauchen! Eine solche Fahrt ist es auch, von der ich nun erzählen möchte, wobei das Wort “schön” hier schon arg strapaziert wird. Aber aufregend war es allemal.
Es war die Saison 1993/1994. Am 10. Spieltag standen wir – wie immer – im Block 5 des Parkstadions. Ich war 14 Jahre alt und fühlte mich selten so heimisch und sicher wie hier, auf diesem Platz in der Nordkurve, der für viele ja eher einen Ort des Schreckens darstellte. Klar sind hier und da mal die Fäuste geflogen, aber unser Trüppchen hatte nie Ärger. Zumindest nicht im Block. Obwohl wir nicht selten äußerst vorlaut waren. Vielleicht aber auch gerade deshalb.
Damals, das wird jemand, der heute in diesem Alter ist, gar nicht kennen, konnte man noch, vorausgesetzt man war mit dem entsprechenden Organ ausgestattet (und das war ich), ein Lied anstimmen, welches mit etwas Glück bald in den Kehlen der ganzen Nordkurve war. Die Nähe unseres Trommlers Catweazle war da sehr hilfreich. Ein magischer Ort.
An besagtem Tag ging es gegen Werder Bremen. Die Hoffnung auf einen Sieg war schwindend gering, erst ein Spiel (am 2. Spieltag gegen Lüdenscheid) konnte man für sich entscheiden. Und auch dieses Mal sollte es trotz Führung durch Luginger nur zum dritten Remis reichen, da Hobsch kurz vor Schluss ebenfalls einnetzte. Wir liefen nach dem Spiel Richtung Bahn, nicht wissend, ob man sich über den Punkt freuen oder über die bisherige Saison enttäuscht sein sollte, als uns Micha, der älteste unserer kleinen Gruppe offerierte, dass er Tickets für die Partie in 14 Tagen in Leverkusen hatte und wir eingeladen wären. Da ich noch nie zuvor in Leverkusen war (von dem bitteren 6:1 in der Vorsaison ließ ich mir nur erzählen), freute ich mich wie ein Kind. Was ich ja auch noch irgendwie war. So konnte uns auch die Niederlage in der folgenden Woche gegen Freiburg, bei der Keeper Lehmann weitere drei Mal hinter sich greifen musste, die Laune nicht verderben.
Eine weitere lange – aber nie langweilige – Teenagerwoche später trafen wir uns recht( )zeitig am Gelsenkirchener Hauptbahnhof und stellten mit Erschrecken fest, dass der Sonderzug – entgegen unseren Informationen – extra bezahlt werden musste. Wir waren jung und hatten weder Geld noch Talent, weswegen guter Rat teuer war. In einer halben Stunde sollte der bereits am Gleis stehende Zug abfahren, und schon am Aufgang sollte man den Obolus entrichten, den keiner von uns Vieren aufbringen konnte. Ich weiß nicht mehr, was der Zug damals gekostet hat, aber es wird sicherlich keine horrende Summe gewesen sein. Doch selbst das war zu viel für unsere Verhältnisse. Immerhin hatten wir einen Rucksack mit reichlich Dosenbier und einer Flasche mit russisch anmutendem Kartoffelbranntwein dabei.
Doch es half alles nichts. Wir mussten in den Zug. Wir gingen auf den Nebenbahnsteig um das Treiben am begehrten Zug besser beobachten zu können. Plötzlich schrie Micha “Los, kommt” und sprang auf die Gleise, um von der anderen Seite in den Zug zu steigen, denn auch dort waren, wie uns ein Insasse zeigte, die Türen nicht verriegelt. Wir waren zu überrascht von seiner Aktion, um ihm zu folgen. Zum Glück. Denn sofort rannten ihm sechs Polizisten – Alles was dieser Bahnsteig zu bieten hatte – nach, um ihn wieder aus dem Zug zu holen. Wir schalteten schnell und rannten zur nächsten Tür, um dort einzusteigen. Was uns auch prima gelang. Aus dem Zug heraus sahen wir, dass der Kollege nicht so viel Glück hatte. Er wurde von den Ordnungshütern in Gewahrsam genommen.
Da so etwas bei uns zugegebenermaßen früher öfters vorkam – wir hielten es nicht immer so ganz genau mit Recht und Gesetz, vor allem an Spieltagen – scherten wir uns nicht weiter darum und ließen uns selbst feiernd den Puschkin in unsere weichen Birnen laufen.
Erst kurz vor dem Ziel unserer Reise schlug sich einer der Mitfahrer auf die Stirn: “Micha hat die Karten.” Stille. Die Stimmung die nun herrschte, war nicht zu beschreiben. Wo wir vorher, gepusht von unserer Möchtegern-Kriminellen Aktion und deren Erfolg, ausgelassen feierten, waren wir nun am Boden zerstört. Doch die Hoffnung starb auch damals schon zuletzt und wir setzten den Weg zum Stadion fort. Was blieb uns auch übrig? Übermütig wurden Worte wie “Zaunkarte” und “durchmogeln” gesäuselt. Doch wir hatten keine Chance. Das Spiel begann ohne uns und während wir noch enttäuscht vor dem Eingang unserem nicht mehr vorhandenen Dosenbier nachtrauerten, und uns fragten, ob man wohl wenigstens zur zweiten Halbzeit noch in die Sportstätte käme, wurden wir erst ein-, dann zwei-, dann dreimal von 20.000 jubelnden Leverkusenern unterbrochen. Kirsten, Sergio, Kirsten. Kotz! Obwohl wir nur ahnen konnten, was sich hinter der Tribünenmauer abspielte, waren wir am Boden zerstört.
Als uns auch nach der Pause der Eintritt verwehrt blieb, entschlossen wir uns, die Heimreise anzutreten und gingen zur nahen Straßenbahnhaltestelle. Wir saßen auf der Bank des Haltestellenhäuschens, als der Blitzmerker unserer Runde sagte: “Ey, guck’ma, das ist der Lehmann!”
Erst lachten wir laut, weil Lehmann schließlich gerade zwischen den Pfosten im Ulrich-Haberland-Stadion stand, aber wir mussten zugeben, dass der Typ mit der großen Sporttasche, der da auf dem Bahnsteig gegenüber saß, unserem Keeper schon ziemlich ähnlich sah. Wir wollten gerade die Bahntrasse überqueren um den Typ voll zu lallen, als wir unsere Bahn anrollen sahen.
In der Bahn klemmten wir uns hinter die Fahrerkabine, da dort das Radio lief und erfuhren, dass Jens Lehmann zur Halbzeit durch Holger Gehrke ersetzt worden war und aus dem Stadion “geflüchtet” sei. Wir trauten unseren Ohren nicht. Da saß echt gerade Jens Lehmann! Ich war heilfroh, dass wir Jens nicht angesprochen hatten. Ich glaube, wir würden heute noch den Abdruck seiner riesigen Hand im Gesicht tragen.
Das Spiel endete übrigens dank eines späten Treffers von Anderbrügge 5:1. Es war zwar die höchste, aber nicht die einzige bittere Niederlage der Saison. Am Ende wurden wir Vierzehnter. Das haben wir heftiger gefeiert, als so manchen Pokalsieg! Aber das sei nur am Rande erwähnt…